Mini and Me

„Und, wie viel Potenzial hat dein 3jähriger?“ – Kritische Gedanken zur Bildungsreform

In diesem Artikel verzichte ich bewusst auf’s Gendern. Wird zu unübersichtlich mit Binnen-i und diesen „_“ Dingern  überall…  Männer sind natürlich gleichermaßen gemeint.

Eine Potenzialanalyse bei Kleinkindern. Was klingt wie ein schlechter Pädagoinnen-Scherz, ist mit der neuen Bildungsreform beschlossene Sache in Österreich.

Konkret ist diese „Potenzialanalyse“ teil des neuen „Bildungskompasses“, der Kinder vom ersten Kindergartentag bis zum letzten Schultag begleitet.

Schon bei 3,5jährigen Kindern möchte man überprüfen, wie weit sie in ihrer Entwicklung sind und wie gut sie Deutsch sprechen. Entwicklungsschritte werden ebenso im Bildungskompass vermerkt wie Ergebnisse der verpflichtenden Sprach- und Entwicklungsscreenings.

So sollen Eltern erfahren, wo ihr Kind Förderung braucht und wo seine Talente liegen. (Endlich weiß ich Bescheid. Danke dafür! *sarcasmoff)

Der Bildungskompass soll durch die in ihm niedergeschriebenen Informationen den Übergang vom Kindergarten in die Volksschule „harmonisieren“. Wie er das macht? Neue Lehrerinnen erhalten mit seiner Hilfe Informationen über jedes Kind und sehen, in welchen Bereichen (laut Auffassung der ehemaligen Pädagoginnen) verstärkter Förderungsbedarf besteht und wo es sich talentiert zeigt. So sollen die Stärken und Schwächen der Kinder gleich zu Beginn bekannt sein und es erleichtern, das Kind punktuell zu fördern.

Die dem Kompass zugrundeligende Idee* finde ich persönlich gut. Meine Bedenken liegen hauptsächlich bei der Ausführung und dort, wo es Menschen braucht, um das Werk mit Inhalten zu füllen.

So stellen sich für mich als Mutter ein paar Fragen:

Wie sieht so ein „Screening“ aus?

Variante eins: Die Pädagoginnen beobachten das Kind still und machen Notizen, halten ihre subjektive Einschätzung im Kompass fest. Woher weiß ich, dass sie sich nicht verschätzen? Kann ich es als Mutter wollen, dass eine Person, die sich mal mehr, mal weniger mit meinem Kind beschäftigt, Dinge im Kompass verewigt, die es während seiner gesamten Schulzeit begleiten? Dinge, die so vielleicht gar nicht korrekt oder nur unzureichend wahrgenommen wurden?

Oder Variante zwei: Eine verpflichtende Leistungsüberprüfung. Der spürbare Druck beginnt für unsere Kinder nun nicht mehr mit jungen 6, sondern mit noch jüngeren 3,5 Jahren, wenn sie verpflichtende Prüfungen ablegen müssen, um zu zeigen, was sie können. Bravo, willkommen in der Leistungsgesellschaft 2.0! Ein riesengroßer Schritt in die richtige Richtung! Nicht.

Haben Eltern Einsicht in den Kompass?

Ich nehme schon an, dass wir Eltern zumindest in die Beobachtungen der Pädagoginnen mit einbezogen werden sollen. Eben um an einem Strang ziehen zu können. Ob das stimmt und ob uns der Kompass wie der Mutter-Kind-Pass mitgegeben wird, werden wir noch erfahren. Stresspotenzial gibt es vermutlich in jedem Fall: Die meisten von uns kennen mindestens eine Geschichte, in der Pädagogin und Kind oder Elternteil sich so überhaupt nicht einig waren. Stellt euch nun weiter vor, dass die Eindrücke einer Person, mit der unser Kind vielleicht überhaupt nicht konnte, es noch viel länger als unbedingt nötig begleiten. Kein prickelnder Gedanke.

Wie „dynamisch“ ist der Bildungskompass?

Vielleicht war das Interesse an einer bestimmten Thematik zum Zeitpunkt der „Leistungsfeststellung“ oder eines „Entwicklungsscreenings“ einfach nicht gegeben. Das wird im Kompass als „förderungsbedürftig“ notiert. Einige Tage später hat das Kind – womöglich sogar aus Eigeninitiative (Ja, so etwas gibt es, wenn es nicht von einheitlichen Stundenplänen unterdrückt wird!) – nicht nur „aufgeholt“, sondern sogar noch mehr Zusammenhänge verstanden und verinnerlicht. Wird der Kompass dahingehend korrigiert?

Ist es überhaupt wünschenswert, neuen Lehrerinnen eine vorgefertigte Meinung über mein Kind anzubieten? Menschen be- und verurteilen. Je älter wir werden, desto mehr Erfahrung haben wir damit und es ist ja auch durchaus hilfreich, passende Schubladen nach Bedarf öffnen zu können. Kinder entwickeln sich so unglaublich schnell weiter. Womöglich verleiten bildungstechnische „Altlasten“ der Kinder Lehrerinnen dazu, Schubladen zu öffnen, noch bevor sie das Kind selbst kennengelernt haben. Schubladen, in die das Kind überhaupt nicht mehr passen (möchte).

Ein letzter Punkt: Menschen können irren. So auch Lehrerinnen. Das sollten wir nicht vergessen, wenn wir ihnen das Recht bzw. die Kompetenz zusprechen, unser Kind durchs Niederschreiben ihrer Eindrücke wesentlich länger als die bisher üblichen zwei, vier oder fünf Jahre zu begleiten.

Die Erkenntnis, dass Kinder individuelle Förderung brauchen, ist keine neue. Aber es ist schön, dass sie in unserem Land nun offenbar auch „ganz oben“ angekommen ist.

In wie weit die Möglichkeit zur Potenzialentwicklung in dem engen Korsett der staatlichen Schulen tatsächlich gegeben sein wird, bleibt abzuwarten.

Die Änderungen, die diese Reform mit sich bringt, werden unser Bildungssystem aber – entgegen Bildungsministerin Heinisch-Hoseks Lob und Jubel – nicht „in eine neue Zeit“ führen.

Die seit Jahren von vielen als notwendig erklärte „Bildungsrevolution“ ist einmal mehr ausgeblieben.

Was denkt ihr?

Ich freue mich über eure Meinungen!


Quellenverweise:

(abgerufen am 17. November 2015)

* Die Idee zum Bildungskompass kam vom österreichischen Genetiker Markus Hengstschläger, unter anderem Autor des Bestsellers „Die Durchschnittsfalle„. Ein Auszug aus dem Klappentext: „In der vielbeschworenen Leistungsgesellschaft ist die Hervorbringung durchschnittlicher Allround-Könner zur obersten Priorität geworden. Aber wer bestimmt überhaupt, was „normal“ ist? Wir kennen die Herausforderungen nicht, die uns die Zukunft stellen wird. Bewältigen können wir sie aber nur, wenn wir jene einzigartigen Talente fördern, die in uns allen schlummern. Es muss die Norm werden, von der Norm abzuweichen.“

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6 Antworten

  1. Meine Gedanken waren ganz ähnliche,, als ich heute Zeitung gelesen habe. Mir ist schon das kalte Grausen hochgekommen beim Willkommensbrief des Magistrats zum Kindergarteneintritt meiner Zwerge. Jeder Satz wies auf den Wert und Status des Kindergartens als BILDUNGS- und FÖRDERUNGSEINRICHTUNG hin. Die mein Kind mit 18 Monaten ja auch schon dringend benötigt. Mir hat sich die Vermutung aufgedrängt, dass viele Eltern das auch einfach gerne hören. Was der Kindergarten erledigt, müssen sie selbst nicht mehr tun. Bestätigen mir Aussagen von Eltern, wie:“Warum sollte ich zu Hause ihre Selbständigkeit fördern. Das sollen die Betreuerinnen im Kindergarten machen …“ Ähm. Danke, das spricht Bände. Gut, dass nicht alle Eltern das so sehen.
    Vermutlich werden sich auch nicht alle Eltern so viele Gedanken zu den Einzelheiten der Bildungsreform machen, so lange ihnen darin zugesichert wird, dass ihr Kind bestmöglichst gefördert und auf eine unkompliierte und erfolgreiche Schullaufbahn vorbereitet wird. Schließlich will ja niemand sein Kind in einer öffentlichen Mittelschule abschließen sehen. #sarkasmusende
    Mir tun die Pädagoginnen ein wenig leid, die das umsetzten müssen. Auf ihren Schultern lastet bei schlechtem Betreuungsschlüssel dann noch früher eine noch größere Last …

    1. Bin da ganz bei dir, Judith. Und du sprichst es auch schon richtig an: Leider ist es manchmal gut, wenn der Staat bzw. die FremdbetreuerInnen der Kinder einiges mehr an Verantwortung übernehmen. Nicht alle Elternteile kümmern sich nach bestem Wissen und Gewissen um ihre Kinder. Das ist freilich die Kehrseite und dahingehend ist der Bildungskompass für mich auch eine Idee, die grundsätzlich was Positives hat. Aber in der Bemühung des Staates, eben nicht alle über einen Kamm zu scheren, tut er wiederum genau das. Leider. (Ganz abgesehen davon, dass es wiederum einen Mehraufwand für Pädagoginnen bedeutet. Der wiegt in meinen Augen aber nicht so schwer, wie der potenzielle Nachteil fürs Kind.)

  2. Wahnsinn!!! Lasst die Kinder doch mal Kinder sein und spielen, lachen und leben.

    Ist doch früh genug, dass sie mit 6/7 Jahren in due Schule müssen…

    Am liebsten wärs ihnen, wenn sie dort schon wüssten wss sie mal machen wollen… studieren, welchen Beruf…

    Das wird alles immer früher und absurter!

  3. Liebe Jeannine!
    Super Post und genau auf den Punkt gebracht!! Und genau deshalb habe ich meine Kinder in einem Montessori-Kindergarten. Ich liebäugle jetzt sogar mit einer Montessori-Schule. Und rate, was mich viele fragen, wenn ich ihnen erzähle, wohin ich meine älteste Prinzessin gegen will: „Was hat sie denn?“ – TATSACHE!
    Naja -in diesem Sinn will jeder das Beste für seine Kinder :)
    Alles Liebe
    Verena

    1. Danke meine liebe Verena! :) Ja, du sprichst mir aus der Seele. Wir haben kommende Woche das Kennenlernen in einem Montessori-Kindergarten und ich freue mich schon so sehr darauf! Der Gedanke, dass der staatliche Kindergarten-Quatsch, der hier geplant ist, uns nicht betreffen wird, ist sehr befreiend und beruhigend.

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