Mini and Me

Trösten, nicht ablenken: über kindliche Gefühle, elterliche Altlasten, Bindung und Erziehung

Letztens am Parkplatz. Wir machen uns nach einem Heurigenbesuch zur Abfahrt bereit. Zwei Autos weiter sind Eltern gerade dabei, den Buggy zu hervorzukramen, während ein kleines Mädchen vergnügt auf dem Schotter hüpft. Sekunden später stürzt sie und fängt sich mit Knien und Händen; die spitzen Kieselsteine müssen ziemlich schmerzen.

Die Mama des Mädchens erschrickt und möchte zu ihr, doch bevor sie zu Wort kommt, kümmert sich schon eine ältere Dame – vermutlich die Oma. „Hopsasa“, sagt sie, „Ist ja nichts passiert.“ Sie putzt die Knie des Mädchens ab, das leise schluchzt. „Ach was, tut nicht weh. Schau mal, da drüben fliegen zwei große Vögel!“

Was ist hier passiert?

Einerseits der Klassiker: Das „Tut doch gar nicht weh!“ der Bezugsperson, das nicht mit der Realität des Kindes übereinstimmt. Hier kommt jedoch ein zweiter, wichtiger Punkt hinzu: Ablenken ist nicht gleich trösten!

Darüber, wie wichtig es ist, den kindlichen Schmerz wahrzunehmen und auch zu verbalisieren, habe ich bereits geschrieben – die Zeilen wurden prompt zum beliebtesten Artikel auf dem Blog. Deshalb griff ich dieses wichtige Thema kürzlich für ein Printmagazin wieder auf.


Kinder trösten: Psychotherapeutin Nina Petz im Gespräch

Im Zuge meiner Recherche für den Print-Artikel lernte ich die Psychotherapeutin Nina Petz kennen und bat sie zum Interview. Mit ihr habe ich über altes elterliches Gedankengut und Bindung als Basis jeder Erziehung gesprochen. Was passiert, wenn Kinder lernen, ihren Gefühlen zu misstrauen?

Warum hört man immer noch „ein Indianer kennt keinen Schmerz“?

Viele Mamas und Papas von heute sind noch mit diesen Redewendungen aufgewachsen. Sie haben sie selbst nur zu oft von den eigenen Eltern gehört und auch erfahren, dass ihre Gefühle von den Eltern nicht ernst genommen oder gar als „falsch“ bewertet worden sind. Es ist nicht einfach, Sprachmuster, die man so oft gehört hat, die man so verinnerlicht hat, loszulassen.

Es ist häufig so, dass man alte Muster zwar erkennt, es aber nicht schafft, diese besonders in Stress- oder Krisensituationen (zum Beispiel mit dem eigenen Kind) wirklich zu ändern. Hier braucht es Reflexionsfähigkeit und Mut, die eigenen Verletzungen der Kindheit loszulassen und den Weg in eine andere Richtung, eine gewaltfreie Sprache, einzuschlagen.

Weitere Gründe sind, dass viele Eltern es nicht aushalten ihre Kinder „leiden“ bzw. weinen zu sehen und leider heute sehr wenig Zeit haben. Sie glauben fälschlicherweise, die Situation sei schneller vorbei, wenn sie ihr Kind ablenken oder „abhärten“, indem sie den Schmerz kleinreden oder bagatellisieren.

Was passiert, wenn Bezugspersonen Schmerzen von Kindern abtun?

Fakt ist, Gefühle kann man nicht bewerten. Gefühle können nicht richtig oder falsch sein. Gefühle sind wie sie sind. Gefühle sind etwas völlig Individuelles, jeder von uns nimmt ein bestimmtes Gefühl anders wahr. Was für eine Person amüsant ist, verärgert die andere. Auch das Schmerzempfinden ist etwas Individuelles. Was einem Menschen unangenehm ist, kann einen anderen schmerzen und wirklich wehtun.

Wenn Eltern die Gefühle ihrer Kinder nicht ernst nehmen – also auch Schmerzen abtun oder nicht wahrnehmen – schädigen sie die Beziehung zu ihren Kindern nachhaltig. Das Kind fühlt sich miss- oder gar völlig unverstanden. Die Vertrauensbasis zu den Eltern bekommt hier erhebliche Schrammen.

Wir wissen heute, dass eine starke Eltern-Kind-Bindung die Basis jeder „Erziehung“ ist. Erziehung ist Beziehung. Eine Beziehung, die es gilt zu hegen und zu pflegen; die den Grundstein legen soll für eine offene Kommunikation in der Pubertät. Und wir wissen heute, wie wichtig es ist, diese Kommunikation am Leben zu halten um seine jugendlichen Kinder auf den richtigen Weg zu begleiten.

„Erziehung ist Beziehung.“ – Nina Petz

Ein weiteres Problem ist, dass Kinder heute zunehmend den Zugang zu den eigenen Gefühlen verlieren. Es ist wichtig, Kinder von klein an zu sensibilisieren, achtsam mit Gefühlen umzugehen – natürlich im Sinne eines gemeinsamen Miteinanders, mit den Gefühlen seiner Mitmenschen aber auch mit den eigenen. Gerade im Präventionsbereich (ich arbeite mit VS Lehrern und Eltern im Bereich Gewalt/Missbrauch-Prävention) ist es wichtig, dass Kinder ihre eigenen Gefühle wahrnehmen, erkennen und verbalisieren können.

Unterstützen Eltern ihre Kinder bei einem positiven Umgang mit allen Gefühlen, macht dies Kinder selbstbewusst. Starke selbstbewusste Kinder, die Worte für ihre Gefühle haben und auch mal sagen, wenn etwas nicht passt, sind geschützte Kinder.

Kinder, die lernen, ihren Gefühlen zu misstrauen, denen immer wieder gesagt wird, „das ist nicht so schlimm“, „du fühlst dich gar nicht so“, verlieren den Zugang zu sich selbst. Häufig wird hier der Grundstein für psychische Probleme im Erwachsenenalter gelegt. Seelische Erkrankungen, wie Burnout oder Depression haben ihren Ursprung häufig in der Kindheit und stehen in Zusammenhang mit der eigenen Gefühlsregulation.

Was passiert, wenn ein Kind liebevoll begleitet und Schmerz verbalisiert wird? Wenn ihm geholfen wird, den Schmerz einzuordnen?

Das Kind fühlt sich geborgen, aufgefangen und geliebt. Besonders kleine Kinder leben sehr im Moment. Sie brauchen Unterstützung beim Umgang mit Ihren Gefühlen. Sie wissen noch nicht, was das für ein Gefühl ist, das sie da so „überkommt“. Sie haben kein Zeitgefühl und können sich im Moment des Schmerzes auch nicht vorstellen, dass dieser wieder vorbeigehen kann.

Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass Gefühlsausbrüche weniger werden, wenn man sie bagatellisiert. Im Gegenteil: Es ist wichtig, Kindern Worte zu geben und sie bei Schmerzen zu begleiten. So erfahren sie nicht nur Zuwendung und das Gefühl, angenommen zu werden so wie sie sind – „ich bin in Ordnung so“ – sondern lernen Gefühle erst so richtig kennen und sie später auch allein zu bewältigen.

Kinder brauchen emphatische Begleitung bei Schmerzen und Gefühlsausbrüchen aller Art, um in der Zukunft mit ihren Gefühlen auch einmal allein umgehen zu können.

Schmerzen oder Weinen werden definitiv nicht mehr oder schlimmer, wenn Eltern sich einfühlsam involvieren. Hier ist es wichtig, dass Eltern zwar einfühlsam reagieren, aber natürlich nicht selbst in Panik oder Angst verfallen. Dies würde sich selbstverständlich auf das Kind übertragen.

Wie verhalten sich Eltern richtig?

Alle Gefühle sind erlaubt! Empathischer Umgang mit allen Gefühlen. Kindern helfen, Gefühle zu benennen, für die das Kind gerade keine Worte findet – nie mit Schmerz oder anderen Gefühlsausbrüchen allein lassen.

Kinder bei der Bewältigung begleiten, beim Kind bleiben, aushalten!

Wenn man als Elternteil bemerkt hat, dass eigene Erfahrungen aus der Kindheit „schuld“ daran sind, dass man eigene Kinder in schmerzhaften Situationen nicht so begleitet, wie man das möchte, welchen ersten Schritte können helfen, hier den „richtigen“ Weg einzuschlagen? 

Es ist ein großer erster Schritt, hier ehrlich auf die eigenen Verhaltensweisen hinzuschauen. Viel Mut ist notwendig, die ganz persönlichen seelischen Verletzungen wieder sichtbar werden zu lassen. Meist sind es eigene emotionale Wunden, die hier bei Mama und Papa hochkommen.

Manchmal hilft ein Gespräch mit dem Partner oder der besten Freundin/dem besten Freund. Sich alles einmal von der Seele zu plaudern, kann wahre Wunder wirken. Wenn man aber spürt, dass liebevolle, einfühlsame Gespräche und Verständnis der Lieben nicht weiterhelfen, rate ich, eine/n PsychotherapeutIn aufzusuchen. Ein Spruch sagt: „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“.

Das soll heißen – und davon bin ich als Therapeutin tief überzeugt – Psychotherapie kann helfen, alte seelische Wunden zu heilen. Doch dies kann ein längerer Prozess sein und seine Zeit dauern. Die Vergangenheit kann man nicht mehr ändern, aber es ist möglich, dass problematische Erfahrungen verarbeitet werden und man bei den eigenen Kindern eine andere Richtung einschlägt.

Was, wenn man sich bereits jahrelang „falsch“ verhalten hat? Kann ich das Nichtwahrnehmen des kindlichen Schmerzes irgendwie „wettmachen“?

Besser spät als nie! Für einen feinfühligen Umgang mit seinen Kindern ist es nie zu spät. Kinder profitieren immer und jederzeit unglaublich von einem positiver Umgang mit allen Gefühlen. Außerdem lernen Kinder permanent und unbewusst täglich auch neue soziale Verhaltensweisen. Sie nehmen schnell und ganz unbewusst neue Dinge an. So übernehmen sie auch bald den emphatischen Umgang, den Mama und Papa nun mit Ihnen pflegen für Ihre eigenen Sozialkontakte und eben auch im Umgang mit dein eigenen Schmerzen.

Voraussetzung hierfür sind natürlich Zeit, Liebe und Engagement der Eltern, die dies ab sofort vorleben und als Role Models fungieren.

Last but not least, rate ich auch Eltern, sich immer wieder mal bei Ihren Kinder zu entschuldigen. Auch Erwachsene sind keine perfekten „Übermenschen“. Es hilft Kindern ungemein, wenn sich Ihre Eltern authentisch entschuldigen, weil Sie vielleicht mal zu laut waren oder eben nicht auf die Gefühle Ihrer Kinder eingegangen sind. Das tröstet…


nina petz psychotherapeutinNina Petz

Eltern-Kids-Coach

Nina Petz ist Eltern-Kids-Coach und betreibt eine psychotherapeutische Praxis in Wien. Sie hat zwei Kinder, eines davon ist „freilernend“ und besucht regelmäßig den „Lernverein“, den Nina selbst mit weiteren Bekannten gegründet hat. Auch zu diesem Thema lest ihr bald mehr, im nächsten „Expertinnengespräch“.

Homepage: ninapetz.at


Wie tröstet ihr eure Kinder?

Wie haben eure Eltern getröstet?

Könnt ihr eine Veränderung im Umgang mit diesem Thema festmachen?

Titelbild CC0 via stocksnap.io
Portrait © Nina Petz

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8 Antworten

  1. Hallo!
    Ein schöner Artikel! Oft habe ich mich sagen gehört „Ja, ich verstehe dich.“ Ich denke man muss nicht übertreiben (es mag ja auch Kinder geben, die jammern um Aufmerksam zu bekommen – das ist aber dann ein anderes Thema), die Schmerzen, Sorgen, Ängste der Kids aber erst nehmen. Es ist fast ein Zufall, dass wir erst kürzlich einen kleinen Beitrag zum Thema „Angst“ gepostet haben.

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