Trigger, Drama und die Frage: Was erlaubst du dir eigentlich?

Wenn dir etwas sauer aufstößt, dann hat es etwas mit dir zu tun? Nein, nicht immer. Aber manchmal eben doch. Warum sich Hinsehen und -fühlen lohnen kann, wenn uns etwas triggert und wie wir manchmal geschickt Mittel und Wege finden, um uns vom schmerzhaften Spüren abzuhalten, liest du in diesem Artikel.

Was erlaubst du dir?

Unlängst habe ich mich mit einem etwa fünfzigjährigen Mann unterhalten. Er war bei den Großeltern meiner Tochter zu Besuch und erzählte, wie es ihm geht, was ihn beschäftigt. Er hatte viel zu sagen und die Großeltern waren geduldige Zuhörer. Es hatte fast ein bisschen was von „Abladen“. Er machte sich Luft und nachdem ich dazugekommen war, merkte ich schnell: Da hatte sich einiges in ihm aufgestaut.

Es gelang ihm ausgesprochen gut, lange über alle möglichen Menschen zu sprechen und sich darüber aufzuregen, was sie nicht alles tun und lassen oder wie die so drauf sind, ohne dabei ein einziges Wort über sich selbst zu verlieren. Von mir behutsam darauf hingewiesen, verstummte er kurz. Nur, um dann mit einem „Ja, aber…“ den Wortschwall fortzusetzen und weiterhin ärgerlich über „die Anderen“ zu reden.

Write hard and clear about what hurts.

– Ernest Hemingway

Dann begann er, von seiner „unmöglichen“ Stiefschwester zu erzählen. Die mit den „zwei linken Händen“, die nicht arbeitet, deren Wohnung einem Saustall gleicht. Und ihr Mann erst! Pah, der hat ja in seinem ganzen Leben noch keinen Finger gerührt.

Nun weiß ich, dass der erzählende Mann eine schwierige Kindheit hatte und in seinem Leben richtig viel gearbeitet hat. Manch einer würde sagen: Er hat nur gearbeitet. Er hat gearbeitet, bis er körperlich und seelisch am Ende war.

Er mag schon recht haben, mit den Aussagen über seine Stiefschwester. Oder zumindest zum Teil. Die viel spannendere Frage für ihn selbst, wenn der Ärger über sie ihn begleitet und beeinflusst, sollte in meinen Augen aber sein: Wünsche ich mir ein kleines bisschen dieser beschriebenen Eigenschaften womöglich für mich?

  • Würde ich beispielsweise gerne auch mal faul sein können?
  • Was wäre ich, und wer wäre ich, wenn ich mich nicht mein Leben lang über meine Arbeit definiert hätte?
  • Wovon wollte ich mich ablenken? Vom Fühlen? Vom Erleben?
  • Und womit lenke ich mich jetzt ab?

Mitten im Drama

Diese Fragen waren für mich nicht zuletzt deshalb so spannend, weil ich feststellen konnte, wie verstrickt dieser Mann ins Drama war. Er brauchte es beinah wie die Luft zum atmen – zumindest schien es so. Drama macht vor allem eines: Es hält uns vom Fühlen ab und vom achtsamen, bewussten Blick auf uns selbst.

Er war als Kind bereits in seiner Jugend ausgezogen und hatte sich Arbeit gesucht, um endlich nicht mehr abhängig zu sein. „Alles, um von diesem Alptraum wegzukommen“, meinte er. Im Laufe des Gesprächs – oder vielmehr: des Monologs – ließ er durchscheinen, dass er den Kontakt mit seiner Familie wieder aufgenommen hatte, nachdem er aufgehört hatte, zu arbeiten. Seine bösartige Stiefmutter war in die Jahre gekommen und er wollte „helfen“. Schließlich hatte er nun Zeit.

So machte er in seinem Leben wieder Platz für diese toxischen Beziehungen, die ihn so viele Jahre seines Lebens belastet hatten.

Nun sind sie wieder da, diese Menschen, durch die er bereits so viel Erniedrigung, Schmerz und Leid erfahren hat. Und sie nützen die Situation aus, rufen ihn unentwegt an, verlangen allerlei, haben immer neue Aufgaben und „brauchen“ ihn. Er mach mit. Das bleibt nämlich dabei: Trotz all dem Ärger, der da in ihm ist, bleibt er für sie erreichbar, anstatt etwas zu ändern. Und dann regt er sich darüber auf. Über die anderen. Das ist Drama.

Drama hält uns vom Spüren ab

Ist es nicht zudem irrsinnig spannend, dass der Mann exakt dann diese toxischen Beziehungen wieder aufnimmt, wenn er endlich mal Raum und Zeit hätte, sich selbst zu spüren und sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, weil er sich nicht mehr in seine Arbeit flüchtet? Kann er vielleicht das Gute, Ruhige nicht ertragen?

Es gibt Menschen, die können das nicht. Die Ursache dafür können prägende oder auch traumatische Erfahrungen aus unserer Kindheit sein. Und davon hat – um bei unserem Beispiel zu bleiben – dieser Mann leider reichlich.

Die gefühlte „Schuld“ wiederum, die dieser Mann mit sich trägt, ist eine andere Sache: Ihm geht es wie vielen großgewordenen Kindern, die eine Ursprungsfamilie haben, in der sie psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt waren. Es scheint fast, als wäre er an sie „angeklebt“. Emotionaler Superkleber.

Blicke liebevoll auf dich selbst

Was ärgert dich an anderen? Möchte die Vollzeitmama, die sich über die berufstätige Mama immer wieder ärgert, vielleicht selbst wieder arbeiten? Würde es der Mama, die sich echauffiert über die Frau, die den Kontakt zu ihrer Ursprungsfamilie abgebrochen hat, vielleicht gut tun, selbst ein gesünderes Standing einzunehmen, in ihrer eigenen? Wird die Mama des gefühlsstarken Kleinkindes, das so um sich haut und wütet, vielleicht an jene Teile ihrer Emotionen erinnert, die sie selbst in ihrer Kindheit nicht zeigen durfte, und deshalb noch wütender auf ihr Kind?

Das muss nicht der Fall sein – kann es aber. Ich meine, diese Gedanken sind es wert, ihnen einmal Raum zu geben. Hinzufühlen und zu erforschen, was der Ärger uns sagen will. Lasst uns uns selbst einmal liebevoll fragen: Was erlaubst du dir eigentlich? Was verbietest du dir? Was ist bei dir belegt mit einem „Das geht ja gar nicht“, oder „Das macht man nicht“? Und warum?

Ich glaube, die „Kunst“ besteht darin, nochmal hinzusehen, wenn uns etwas triggert:

  • Warum macht dieses oder jenes etwas mit mir?
  • Warum berührt mich eine Aussage?
  • Warum werde ich wütend?
  • Was will mir meine Emotion, meine Wut, sagen?
  • Erlaube ich mir Dinge nicht, die mir eigentlich gut tun würden? Was hält mich davon ab, mehr davon in mein Leben zu lassen?

Und dann gilt es, hinzuhören.

Wollen wir wachsen und uns selbst sowie unser Verhalten und unsere Glaubenssätze wirklich reflektieren, dürfen wir hier nicht zumachen. Wahrscheinlich wird da etwas in uns angerührt, vor dem wir uns schon länger verschlossen haben. Zum Schutz? Aus Angst oder Scham? Vor Ekel?

Oder aber wir verwerfen die Gedanken wieder und haben uns einfach nur ein klein bisschen geärgert, ohne dass es mehr mit uns zu tun hat. Das kann ja auch ganz witzig sein, und für Verbindung unter Freund*innen sorgen. So eine kleine Prise Drama… Hellhörig werden sollten wir, wenn wir gefühlt drin „steckenbleiben“ und es irgendwie ein klein bisschen zu viel des Guten wird. Wenn wir’s brauchen, um uns zu spüren – oder nichts anderes zu spüren.

Das Hinterfragen unserer Emotionen und damit womöglich etwas Altes, Verdecktes sichtbar zu machen, kann uns herausfordern und auch schmerzen. Aber nicht minder wertvoll und heilsam ist es für unser Selbst. Wollen wir uns weiter „ent-wickeln“ und nicht stehen bleiben, müssen wir auch das tun: Hinsehen.


Mehr über Trigger, toxische Beziehungen zu anderen Erwachsenen und wie du dein gesünderes Standing findest liest du in dem Buch „Ent-eltert euch“ von Sandra und Martin Teml-Wall, sowie in meinem SPIEGEL-Bestseller „Mama, nicht schreien! Liebevoll bleiben bei Stress, Wut und starken Gefühlen“.

Wenn du lernen willst, dich wirklich gut um dich selbst zu kümmern und in dir genug Sicherheit zu etablieren, um endlich ein wirklich authentisches Leben zu führen, empfehle ich dir von Herzen meinen Live Kurs „Lebend/Ich: Reise in dein Nervensystem“ sowie mein aktuell neuestes Buch „Du bist viel mehr als deine Gefühle“.

Ich danke Sandra Teml-Wall für den wunderbaren Satz: „Was erlaubst du dir?“

Weiterlesen bei Mini and Me:

Jeannine ist Nr. 1 Spiegel-Bestseller Autorin und dipl. Trainerin mit Fokus auf emotionale Gesundheit, bewusstes Elternsein, Stress, Trauma, Körper und Nervensystem. Schreiben ist ihre Leidenschaft. Ihren ersten Blog tippte Jeannine vor mehr als 20 Jahren. Im Mai 2019 erschien ihr erstes Buch „Mama, nicht schreien!“, das innerhalb weniger Wochen zum Bestseller avancierte und mittlerweile in 10 Sprachen übersetzt wurde. Weitere Bücher und ihre Online Kurse für ein bewusstes Leben findest du auf ihrer Homepage jeanninemik.com. Die 36jährige lebt mit ihrer Familie in Wien.

www.mini-and-me.com

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