Während unsere Kinder vergnügt miteinander spielen, erzählt L. mir von einem Erlebnis, das sie verändert hat – in ihrem Frausein und als Mutter. Vor drei Jahren verlor sie ihr ungeborenes Kind im 4. Monat. Wir kennen einander schon lange, aber davon wusste ich bisher nichts. Sie hebt eine Augenbraue, schaut konzentriert ins Leere und fährt dann fort: „Und weißt du, was sie gesagt hat?“ Ich schüttle den Kopf, sie seufzt. „Ihre Antwort war ‚Na dann klappt’s hoffentlich beim nächsten Mal. Seien Sie froh, dass Sie schon ein Kind haben.’… und das sagt sie als meine Frauenärztin?!“
L. erzählt, dass ihr verlorenes Kind immer irgendwie da ist. Dass sie sich oft fragt, wie es gewesen wäre, wenn dieser kleine Mensch in ihr Leben getreten wäre.
Die Geschichte beschäftigt mich. L. ist nicht die einzige Frau in meinem Umfeld, die eine Fehlgeburt erlebt hat. Laut Wikipedia sind etwa 30 % der Frauen irgendwann einmal in ihrem Leben von einer Fehlgeburt betroffen. Also beinah jede Dritte von uns. Aber irgendwie ist es nie Thema. Warum nicht?
Mag. Nicola Widmann über das Tabuthema Fehlgeburt
Ich habe mit Mag. Nicola Widmann, ihreszeichens dipl. psychologische Beraterin, Supervisorin und Coach, über ein Tabuthema unserer Gesellschaft gesprochen.
MaM: Wenn jede dritte Frau von einer Fehlgeburt betroffen ist, warum hört man so wenig darüber?
Nicola: Die Statistiken geben hier unterschiedliche Werte an. Wieviele Frauen tatsächlich eine Fehlgeburt erleben, ist nicht so leicht zu eruieren, da die meisten Fehlgeburten bereits in den ersten 5 Schwangerschaftswochen passieren, großteils auch ohne dass die Frau es merkt (55%).
Darüber hinaus ist das Thema Fehlgeburt ein großes Tabuthema. Wir leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft, in der alles machbar ist bzw. machbar sein muss. Eine Fehlgeburt kann sich für die Betroffenen da wie persönliches Versagen anfühlen. Es ist nicht in unseren Köpfen, dass eine Fehlgeburt – vor allem in den ersten Schwangerschaftswochen – eine völlig natürliche Einrichtung unseres Körpers ist, wenn sich die Schwangerschaft nicht optimal entwickelt. Das hat nichts mit persönlichem Versagen zu tun, fühlt sich aber meist so an. Und das hängt man nicht gern an die große Glocke, auch weil man sich vor der Reaktion des Umfelds schützen will.
MaM: Vor der 12. Woche sind Fehlgeburten am häufigsten. Fällt leichter, das Erlebte zu verarbeiten, wenn man noch relativ am Anfang der Schwangerschaft stand?
Nicola: Wann es leichter oder schwerer fällt, eine Fehlgeburt zu bewältigen, lässt sich nicht in Wochen messen. Natürlich wird die Bindung zwischen Mutter und Baby von Tag zu Tag und Woche zu Woche intensiver. Aber für eine Frau die gewollt schwanger wird und voll Freude das neue Leben in sich heranwachsen spürt, gibt es nichts Schlimmeres als das Kind zu verlieren – egal in welcher Woche es passiert. Und je inniger wir uns das Baby gewünscht, es akzeptiert und uns mit ihm identifiziert haben, umso tiefer ist der Schmerz. Das gilt im übrigen auch für Männer.
MaM: Ist es für die Verarbeitung hilfreich, wenn man nicht erklären muss, wo der Bauch bleibt und niemand von der Schwangerschaft wusste?
Nicola: Ja, absolut. Es ist für die meisten leichter, diesen Schicksalsschlag erst einmal für sich allein zu bewältigen und dann bewusst zu entscheiden, wen sie ins Vertrauen ziehen wollen und wen nicht. Wenn die Schwangerschaft schon zu sehen war und das Umfeld bescheid wusste, kommen natürlich von rundherum die Fragen, wie es denn in der Schwangerschaft geht und ob es schon einen Namen gibt usw. Alle sind neugierig und wollen sich mitfreuen. Darum ist es auch hier sehr wichtig, möglichst bald entscheiden zu können, wie man das Thema nach außen transportieren will und kann.
MaM: Wie kann man trösten?
Nicola: Wer eine Fehlgeburt erlebt, befindet sich in einem Wechselbad der Gefühle und hat nicht selten das Gefühl, verrückt zu werden. Am quälendsten in dieser Zeit sind die Schuldgefühle und Selbstvorwürfe und die Fragen „Warum ausgerechnet ich/wir?“ und „Was habe ich falsch gemacht?“ Menschen, die nachvollziehen können, was Betroffene gerade durchmachen, entweder weil sie es selbst durchlebt haben oder langjährige professionelle Erfahrung in der Betreuung mit Betroffenen haben, sind gute Ansprechpartner und können den Schock bewältigen helfen.
Floskeln helfen hier gar nicht weiter:
- Seid froh, dass es so früh passiert ist!
- Bist ja noch jung!
- Hast eh schon zwei!
- Beim nächsten Mal klappt‘s bestimmt!
Unter einer Fehlgeburt leiden aber nicht nur Frauen, sondern auch die betroffenen Männer. Nur reagieren sie anders. Viele Männer begegnen dem Erlebten möglichst nüchtern und sachlich, um die Situation zu stabilisieren.
Einer meiner Klienten hat es einmal so formuliert: „Ich muss jetzt stark sein und meiner Frau Halt bieten und sie entlasten.“ Durch dieses Verhalten entfernen sich die Männer aber nur von ihren eigenen Gefühlen und wirken auf ihre Frauen distanziert und verständnislos, was wiederum die Krisenbewältigung massiv erschwert, weil sich letztlich beide unverstanden und allein mit dem Problem fühlen. Die Lösung ist zu reden, miteinander im Gespräch zu bleiben und zu lernen, dass das Zulassen von Ängsten und Gefühlen ein Zeichen von Stärke ist – auch für Männer.
MaM: Was, wenn man zu dem Kind noch keine Beziehung hatte?
Nicola: Die eigene Schwangerschaft und der Verlust des Ungeborenen sind ganz individuelle Prozesse und hier gibt es generell kein Richtig oder Falsch, sondern nur ein „Geht’s mir gut“ oder „Geht’s mir nicht gut“. Die Frage ist: Mache ich mir etwas vor oder hatte ich wirklich noch keine Bindung zum Kind?
MaM: Wie gehen Paare mit einem erneuten Versuch um? Hast du den Eindruck, dass man es schnell wieder probieren möchte oder lässt man eher etwas Zeit vergehen?
Nicola: Nicht selten entscheidet sich eine Frau, die eine Fehlgeburt erlebt hat, bewusst gegen eine neue Schwangerschaft, um sich selbst vor der Gefahr einer weiteren Fehlgeburt zu schützen. Ob ich den Kinderwunsch nach einer Fehlgeburt für mich abschließe oder nicht, ist eine Entscheidung, die wohl überlegt und gut hinterfragt werden sollte, damit man sich nicht Jahre später mit Selbstzweifeln und Vorwürfen konfrontieren muss.
Wenn ein Paar aber möglichst schnell wieder aufs Pferd steigen will, ist zu klären, was der Wunsch bzw. Drang dahinter ist. Manchmal kann es sein, dass man mit einem erneuten Versuch das Erlebte vergessen will oder das verlorene Baby ersetzen will. Das funktioniert aber leider nicht, denn der Schmerz bleibt derselbe.
Wenn aber ein Paar die Fehlgeburt für sich gut verarbeitet hat und es darum geht, jetzt ein weiteres Baby – wenn man so will – ein Geschwisterl zu basteln, dann ist das wunderbar.
Mag. Nicola C. Widmann
Neue Perspektiven für Krisenbewältigung und Potenzialentwicklung
Seit 2008 bietet die diplomierte psychologische Beraterin psychologische Beratung, Supervision und Mediation in ihrer freien Praxis in Baden und Wien. Sie ist außerdem Lehrbeauftragte an österreichischen Fachhochschulen und Fortbildungsinstitutionen und coacht mit ihrer Labrador-Mix-Hündin Phoebe auch Kinder und Jugendliche.
Homepage: neueperspektiven.at
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7 Antworten
Schön, dass du dieses Thema aufgreifst!
Ich bin selbst betroffen und hatte 2 Fehlgeburten und eine stille Geburt! Bin also quasi Fachmama auf diesem Gebiet. Danke fürs drüber schreiben!
Oh puh, das tut mir leid zu lesen! Danke für deine Zeilen und die ehrlichen Worte, Lilla! <3
Hallo,
lese erst seit jetzt deinen Blog….glücklicherweise habe ich zwei gesunde Kinder und musste noch nie eine Fehlgeburt erleiden. Meine Mutter allerdings hat mit 40 ein Baby verloren. Manchmal denke ich an sie und bin traurig, dass ich keine Schwester bekommen habe.
Das Interview war sehr interessant!
Liebe Grüße!
Hm, tut mir leid, das zu lesen, Martina. Das Gefühl von „Was wäre wenn“ kann mitunter sehr belastend sein, in einer solchen Situation vermutlich noch mehr, als in vielen anderen. Danke für dein Kommentar und deine lieben Worte zum Interview!
Hallo , guter Artikel ich hatte damals in der neunten Woche (also sehr früh) eine missed abortion. Damals brach eine welt für mich zusammen. Jedoch konnte ich das erlebte (anscheinend) gut verarbeiten. Vl. Weil ich nun eine kleine wunderbare gesunde tochter habe. Ich „weine“ diesem kind nicht hinter her, es sollte nicht sein… es war mein Schicksal und diesen weg musste ich gehen um meine tochter zu bekommen. Jeder verarbeitet anders ..was ich jedoch sagen will, mir geht es sehr gut, ich zünde keine kerze an und ich denke auch nie an dieses ungeborene kind . Beim lesen hatte ich fast ein schlechtes gewissen, warum ich nicht an dieses wesen denke. Vl. Ist es mein glaube … ich musste diesen post aber einfach hier lassen um anderen Müttern die so fühlen wie ich, zu zeigen sie sind nicht alleine mit ihrer „nichttrauer“ und man braucht kein schlechtes gewissen zu haben wenn man nicht so fühlt. Eine großen Umarmung an alle die momentan in dieser schwierigen Situation sind aber es geht wieder bergauf.
Es gibt ein gutes Buch zu diesem Thema von Hannah Lothrop
Gute Hoffnung, jähes Ende