Gastartikel-Reihe von Leandra Vogt
Stress, Zeit- und Leistungsdruck, Verluste – es gibt eine Vielzahl von Ereignissen und Umständen im Leben, die sich nicht gut anfühlen. Wir lieben unsere Kinder bis ins Unermessliche und möchten sie nur zu gern vor all diesen Krisen bewahren. Leider steht das jedoch nicht immer in unserer Macht. Negative Erfahrungen und damit einhergehende Gefühle wie Trauer und Wut gehören genauso zum Leben dazu, wie seine wohligen Seiten.
Wie wäre es aber, wenn es uns möglich wäre, unsere Kinder für diese Momente und Phasen im Leben gezielt zu stärken? Wie wäre es, wenn wir die Chance hätten, unsere Kinder mit „Vitaminen“ und „Nährstoffen“ zu füttern, um einen stärkenden Vorrat zu schaffen, auf den sie in fordernden Situationen stets zurückgreifen können?
Max ist 7 Jahre alt. Er lebt gemeinsam mit seinen Eltern in Berlin – Grunewald. Sein Vater ist ein viel beschäftigter Diplomat, der sehr selten zu Hause ist.Die Familie legt großen Wert auf eine konservative, fundierte, institutionelle Bildung der Kinder. Max besucht also eine Ganztagsschule, in der er nach dem Unterricht täglich viele AG‘s und Kurse belegt. Es geht hier oft sehr hektisch zu und der Leistungsdruck ist wahnsinnig hoch.
Max‘ Mama Cara sieht, wie sehr Max unter der häufigen Abwesenheit seines Vaters leidet. Sie kann das gut verstehen, denn auch sie vermisst ihren Mann sehr. Die tägliche Abwesenheit ihrer Kinder macht sie ebenfalls sehr traurig. Mit häufigen Shoppingtouren und Spabesuchen versucht sie sich abzulenken. Hierbei lernt Cara Elisabeth kennen, welche als Resilienztrainerin arbeitet.
Von dem Wort „Resilienz“ hört Cara zum ersten Mal und ist zunächst nicht besonders interessiert.
Dennoch erzählt Cara im Gespräch von ihrem Gefühl der Machtlosigkeit. An den Umständen kann sie nun mal nichts ändern, und trotzdem muss sie dabei zusehen, wie nicht nur sie, sondern auch Max unter der Situation leidet. Sie wünscht sich so sehr, dass ihr Sohn zu einem selbstbewussten, starken und vor allem glücklichen Menschen wird. Wie soll das gehen, trotz der großen Sehnsucht nach dem Papa und dem Zeit- und Leistungsdruck in der Schule?
Resilienz: Das Immunsystem der Kinderseelen
Es gibt diese Menschen, diese Kinder: Trotz herausfordernden, schweren und teilweise desaströsen Lebensbedingungen schaffen sie es, ein erfülltes, glückliches und erfolgreiches Leben zu bestreiten, während andere aus der Abwärtsspirale nicht herausfinden. Es gibt diese Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen und Stresssituationen, persönliche Herausforderungen und Drucksituationen mit Bravour meistern.
Wie kann das sein? Was haben diese Menschen, was andere nicht haben?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich etwa seit den 1950er Jahren die Resilienzforschung. Die amerikanische Psychologin und Soziologin Emmi Werner beobachtete gemeinsam mit ihrer Kollegin Ruth Smith einen kompletten Geburtsjahrgang auf der hawaiianischen Insel Kuai.
Von Geburt an bis ins Alter von etwa 40 Jahren verfolgte Werner gemeinsam mit ihrem Team die Entwicklung dieser Menschen. Nun sprechen wir hier nicht von dem Sommer-Sonne-Sonnenschein-Hawaii, das uns heute meist vor Augen schwebt. In den 50er Jahren herrschten auf Kauai sehr schwierige Verhältnisse. Drogenkonsum, Gewalt und Kriminalität standen an der Tagesordnung.
Wie es wohl die meisten Menschen erwarten würden, gerieten tatsächlich etwa zwei Drittel der begleiteten Menschen in eine Abwärtsspirale. Sie wurden drogensüchtig, kriminell, krank.
Das Leben von einem Drittel der beobachteten Personen verlief jedoch ganz anders als erwartet: Trotz derselben erschwerten Lebensbedingungen, waren diese Menschen dazu in der Lage, stabile und glückliche Beziehungen aufzubauen. Sie führten ein gesundes Leben, bildeten sich und ergriffen feste Berufe.
Die Besonderheit der Resilienzforschung liegt darin, das Augenmerk nicht etwa auf die krankmachenden Auslöser zu legen, so wie es bis dato üblich war. Die Resilienzforschung sucht gezielt nach den Umständen, Eigenschaften und Auslösern, die zu Gesundheit führen!
So stellten Werner und ihr Team fest: Ein Drittel der von ihnen beobachteten Menschen besaßen die Fähigkeit zur Resilienz.
Resilienz – was genau bedeutet das denn nun?
Aus dem Englischen resilient übersetzt, bedeutet dieser Begriff soviel wie „Spannkraft“ oder „Elastizität“, aus dem Lateinischen re-salitare, was soviel wie „zurückspringen“ bedeutet.
Dabei beschreibt Resilienz die Fähigkeit von Menschen, selbst in schwierigen Lebenslagen, in Zeiten von Stress und Trauer, immer wieder aufstehen zu können. Resilienz bedeutet die Fähigkeit, Herausforderungen als solche anzuerkennen und gezielt einen Weg hinauszufinden und sogar gestärkt aus dieser Krise hervorzugehen. Ich bezeichne die Fähigkeit zur Resilienz ganz gern als „Immunsystem der Seele“.
Katja Doubek definiert sie in ihrem Buch „Was uns nicht umbringt, macht uns stark: Wie man eine schwierige Vergangenheit überwindet“ (S. 18):
- Resilienz ist die Fähigkeit, Ihren Kummer zu kanalisieren, statt zu explodieren.
- Resilienz ist die Fähigkeit, negative Gefühle in positive Emotionen umzugestalten.
- Resilienz ist die Fähigkeit, sich zu wehren.
- Resilienz ist die Fähigkeit, Schwierigkeiten zu meistern.
- Resilienz ist die Fähigkeit, Rückschläge auszuhalten.
- Resilienz ist die Fähigkeit, die Wunden der eigenen Seele zu heilen.
- Resilienz ist der Wille zu überleben.
- Resilienz ist die Disziplin, Herausforderungen anzunehmen.
- Resilienz führt schließlich dazu, dass Sie am Morgen im Spiegel Ihr fröhliches und kein verbittertes, trauriges oder zorniges Ich sehen.
Resilienz ist erlernbar!
Nun ist es bekanntermaßen ja so, dass wir unser Immunsystem – also die Abwehrkräfte unseres Körpers gegen negative Einwirkungen – stärken können. Vitamine, Mineralstoffe und ausreichend Bewegung trainieren unsere Abwehrkräfte und machen uns widerstandsfähig gegen negative Einflüsse von außen.
Mit der Resilienz verhält es sich gleichermaßen.
Die wohl beste Erkenntnis aus der Resilienzforschung ist die, dass diese Fähigkeit zur psychischen Widerstandskraft erlernbar, ja sogar trainierbar ist: Wir alle können das Immunsystem unserer Seele und der Seelen unserer Kinder präventiv stärken!
Schutzfaktoren, die zur Resilienz beitragen
Die bereits erwähnte Besonderheit der Resilienzforschung besteht darin, dass sie sich auf diejenigen Merkmale, die aus der Krise hinausführen, konzentriert. Werner und ihre Kollegen blickten bei ihrer Studie in Hawaii also auf die gesunden, glücklichen Menschen und versuchten herauszufinden, was bei ihnen genau dazu geführt hat, dass sie sich so positiv entwickelten.
Aus dieser Forschung resultierten unter anderem die sogenannten Resilienzfaktoren (bzw. Schutzfaktoren) – und um an meinen oben aufgeführten Vergleich anzuknüpfen – „die Vitamine für unser Immunsystem der Seele“.
Unter diesen Schutzfaktoren versteht man bestimmte Eigenschaften oder Lebensumstände des Kindes bzw. des Menschen, die sich schützend und stärkend um dessen Seele legen. Sie stellen einen Pool von Ressourcen dar, derer sich der Mensch in der Krise bedienen kann um die Herausforderung erfolgreich zu bewältigen.
Diese „Eigenschaften“ erwirbt das Kind in der Interaktion mit seiner Umwelt und durch die erfolgreiche Bewältigung von altersspezifischen Entwicklungsaufgaben. Diese sogenannte Schutzfaktoren korrelieren mit den zehn “life skills”, die im Jahr 1994 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Lebenskompetenzen definiert wurden.
Sie werden in zwei Gruppen differenziert:
Personale Schutzfaktoren: mein inneres Schutzschild
Unter den personalen Schutzfaktoren verstehen wir Ressourcen auf personaler Ebene – also auf der Ebene der eigenen, inneren Kompetenzen von euren Kindern, die sie stets mit sich tragen. Neben Liebe, Sinn, Selbstwertgefühl, Hoffnung und Akzeptanz zählt eine Fülle von Eigenschaften und Fähigkeiten wie die Empathie, Achtsamkeit oder Kreativität zu diesen Ressourcen.
Soziale Schutzfaktoren: das Netz, das mich stets fängt
Aus der Resilienzforschung gehen darüber hinaus ebenfalls Schutzfaktoren auf der Beziehungsebene hervor. Hierbei spielt das direkte und indirekte soziale Umfeld des Menschen die maßgebende Rolle.
- Welche Qualität haben die Beziehungen?
- Welche Werte werden innerhalb dieser Beziehungen respektiert und gelebt?
- In welchem sozialen Umfeld bewege ich mich?
Es gibt also bestimmte Faktoren, deren positive, stärkende Wirkung für unsere Psyche wissenschaftlich belegt ist.
Sie bilden das Fundament von „Vitaminen“ und „Nährstoffen“, auf das unser Immunsystem zurückgreifen kann, wenn es sich zu wehren gilt.
Für unser Familienleben stellt dieses Wissen eine besondere Chance dar! So erhalten wir als Eltern ein wenig Handlungsfähigkeit zurück. Es ist uns zwar nicht gänzlich möglich, unsere Kinder vor negativen Erfahrungen zu bewahren – aber wir erhalten die Chance, unsere Kinder mit möglichst großer Kraft und einer Vielfalt von Ressourcen auszustatten um sie für solche Erlebnisse zu stärken.
Gefahr und Chance: Wege zur Förderung der seelischen Immunabwehr
Das Chinesische Wort „Krise“ besteht in der Schrift aus der Zusammensetzung zweier Worte: Gefahr und Chance.
Wie können wir uns selbst und unsere Kinder dabei unterstützen, ganz im Sinne des chinesischen Symbols, in herausfordernden Situationen die Chance und die Aussicht auf ein positives Leben zu sehen? Die Chance dazu, auf unsere eigene Kraft zu vertrauen, die Chance, einen positiven Ausgang für uns zu erkennen? Welche Schritte sollten wir gehen um die Fähigkeit zur Resilienz zu einem Bestandteil in unserer Familie werden zu lassen?
In den weiteren beiden Teilen dieser Gastartikel-Reihe möchte ich euch die grundlegenden Wege aufzeigen, die den Weg in eine resiliente Zukunft ebnen können.
Ich zeige euch, welche Vitamine und Mineralstoffe eure Kinder dabei unterstützen können, ihre Fähigkeit zur Resilienz auszubauen, welche Rolle ihr als Eltern dabei spielt und was genau ein Spiegel damit zu tun hat.
Alle Teile der Resilienz-Reihe auf Mini and Me:
Teil I: Resilienz: Vom Immunsystem der Kinderseelen und wie wir es stärken können (9.1.)
Teil II: Die Schutzfaktoren – Wege zur Förderung der seelischen Immunabwehr (16.1.)
Teil III: Blick ins Ich: Lebst du deinem Kind vor, was es heißt, glücklich zu sein? (23.1.)
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Leandra Vogt
Erkenntnisse mit Herz
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Leandra Vogt ist staatlich anerkannte Kindheitspädagogin (B.A.), zertifizierter Resilienz – Coach und Mama. In Form von Workshops und Einzelcoachings begleitet sie Familien, Mütter und Fachkräfte sowohl on- als auch offline auf ihrem Weg in eine starke Zukunft. Dabei steht vor allem die individuelle Erarbeitung und Stärkung der eigenen Ressourcen im Vordergrund.
Auf ihrem Blog schreibt Leandra Vogt über Resilienz – also über alles, was Eltern und ihre Kinder für das Leben stärkt.
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Weiterlesen bei Mini and Me:
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Fotos: fotolia, Text: Leandra Vogt
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9 Antworten
Was für ein spannendes Thema! Am liebsten würde ich sofort weiter lesen, bin schon sehr gespannt wie es weiter geht!
Das freut mich sehr, meine Liebe, danke dir! :) Gestern ging der neue Artikel online, schon gesehen auf IG? https://www.mini-and-me.com/resilienz-bei-kindern-wie-die-6-schutzfaktoren-die-seelische-immunabwehr-foerdern-teil-2-von-3/
Witzig, zweimal in kurzer Zeit, im neuen Kindergarten ist in der Elterninfomappe auch ein langer Beitrag zur Resilienz. Wirklich gut geschrieben (hier) und freue mich auf die weiteren Beiträge
Gabriele
Liebe Gabriele, danke dir für dein Kommentar und die lieben Worte zum Artikel! Wie schön, dass dieses Thema auch im Kindergarten behandelt wird… es ist so wertvoll! :) Schau mal, hier ging gestern der zweite Artikel online: https://www.mini-and-me.com/resilienz-bei-kindern-wie-die-6-schutzfaktoren-die-seelische-immunabwehr-foerdern-teil-2-von-3/
Danke, für deine Hilfe und gut verständlichen Tips.
Ich finde es sehr wertvoll und wichtig das wir unsere Kinder verstehen lernen und sie zu gesunden Erwachsenen begleiten.Die achtsam und verantungsvoll mit allem umgehen. Finde es toll ,das es solche Menschen wie dich gibt.
Die uns einen Lichtblick am Ende des Tunnels geben.
Glg Birgit