Mini and Me

„Nein, das ist falsch!“ oder: Lasst Kinder einfach machen!

Es schneit. Wir ziehen uns an und stürmen ins Freie. Draußen angekommen begutachtet sie die angezuckerten Bäume, klopft begeistert auf die niedrigen Büsche und grinst, als der Schnee von ihr aufgewirbelt wird und dann zu Boden fällt. Die Terrasse ist vom Neuschnee noch nicht ganz bedeckt. Ich zeichne ein Herz und drücke meine Hand auf den Boden, mache Handabdrücke. Sie findet das lustig, sieht mir eine Weile zu und stapft dann wieder aufgeregt umher. Ich beobachte sie, zücke dann mein Handy und filme.

Mama, ich schaffe das!

Nach einer kurzen Weile nähert sie sich der Stufe, über die man auf Straßenniveau und zum Gartentor gelangt. Die steigt sie normalerweise an meiner Hand hinunter. Ich merke, dass sie es alleine wagen möchte und sage: „Steig bitte nicht ohne mich hinunter.“ Sie tappst weiter vor. „Bleib bitte oben.“ Natürlich werde ich ignoriert. Noch ein Schritt vor. Dann greift sie zum Gartenzaun, hebt den Fuß und während sie allein hinuntersteigt sage ich: „Halte dich gut fest!“ Natürlich hätte ich mir die Worte sparen können. Das wäre sogar besser gewesen, um sie nicht in ihrer Konzentration zu stören. Sie steigt problemlos die Stufe runter, geht unten ein paar Schritte und setzt zum wieder Hinaufsteigen an. Wieder sage ich „Festhalten!“ und wieder war die Ermahnung absolut unnötig. Sie schafft es.

Was dann passierte, war einer der Momente purer Freude, die man als Elternteil nicht vergisst.

Sie war so unglaublich stolz auf sich selbst, so glücklich über das Bezwingen der Stufe. Als hätte sie mit einem Schlag alle Seven Summits dieser Erde bestiegen.

Sie hat es selbst geschafft. Und ich war dabei.

Ich geb dir Raum.

Ähnlich war es, als sie kürzlich ihre Faszination für das Ladekabel meines MacBooks entdeckte. Sie drehte das Laptop-Ende (Ihr wisst, was ich meine. Also, nicht das Steckdosen-Ende, das andere Ende.) so lange in alle Richtungen und versuchte, es in alle vorhandenen Öffnungen zu stecken, bis es passte. Bling – als dann auch noch das Grüne licht anging, war die Begeisterung riesig!

Bis zu diesem Moment hat sie keine Ahnung, dass ich sie jedes Mal dabei beobachte. Ich habe mich noch nie bemerkbar gemacht. Darauf bin ich echt stolz.

Sie hat es selbst geschafft. Und ich war dabei.

Bewusst „einfach machen lassen“ – gab’s das früher?

Das „einfach mal machen Lassen“ ist eine herausfordernde Übung des täglichen Lebens für Erwachsene. Es fällt mir oft schwer, mich bei den Entdeckungen meiner Tochter zurückzunehmen, obwohl ich weiß, wie wichtig das für die kindliche Entwicklung ist.

Wie sehr sich unser Verständnis von aufmerksamer Zuwendung in den letzten Jahren verändert hat und welch hohe Kunst es ist, sich als Erwachsener zurückzuhalten, zeigt die Geschichte meiner Freundin F. Sie ist auch Mutter eines kleinen Mädchens, etwas jünger als meine Tochter.

F. schätzt und liebt ihre Eltern sehr. Obwohl ich diese Geschichte anonym abtippe, hat sie lange überlegt, ob ich das überhaupt darf. Ihr Vater ist ein großartiger Papa und wunderliebevoller Opa.

Manchmal zeigt sich eben, dass Großeltern schlichtweg anders mit einigen, für uns so wichtigen Bereichen der Erziehung umgehen.

So auch an diesem Nachmittag.

Gut gemeint ist nicht gut gemacht.

Eine Nacherzählung, in meinen Worten:

Opa und Enkelin sitzen am Wohnzimmerboden. Sie ist in die Löcher des neuen Holzschneckenhauses vertieft: eines ist rund, das zweite dreieckig und das dritte quadratisch. Ein Holzstück passt in die runde Öffnung und landet mittlerweile auch ziemlich schnell darin. Als nächstes steckt sie eine Spitze des Dreiecks in dasselbe Loch. Sie dreht die kleine Hand neugierig in alle Richtungen.

Nein, das ist falsch.“, sagt Opa lächelnd. F, die gerade bei ihrem Schreibtisch am Laptop sitzt, hört das und stutzt. Ihre Tochter lässt von der einen Öffnung ab und versucht jetzt, das Dreieck in die quadratische zu schieben. „Das ist auch falsch!“ Hm, schon wieder? F findet das sofortige Korrigieren der Kleinen nicht gut, weiß aber nicht, wie sie reagieren soll, denn eigentlich spielen die beiden ja lieb miteinander. Deshalb sagt sie nichts. „Vielleicht ist das schon richtig so, schließlich hat er das ganze Erziehungsding schon einige Male öfter gemacht, als ich.“, denkt sie und schwingt diesmal selbst die Erfahrungskeule, stellvertretend für eine imaginäre Person, die ihr mit dieser Attitüde mächtig auf den Keks gehen würde.

Opa zeigt auf die dreieckige Öffnung. Das entsprechende Holzstück landet im Schneckenhaus, was er wiederum mit einem ehrlich begeisterten, liebevollen „Bravo!“ kommentiert. Die Kleine freut sich. Das Spiel geht weiter. Ein liebevolles aber bestimmtes „Nein!“ tönt an Fs Ohr. Sie guckt ums Eck. „Nein, so geht das auch nicht.“, hört sie weiter.

Holz scheppert leise. Ihre Tochter versucht unermüdlich und in allen möglichen Ausrichtungen, das quadratische Stück in die runde Öffnung zu quetschen; und bei jedem einzelnen Anlauf kommentiert Opa es mit einem „Nein!“ oder „Nein, falsch.“ Zehn Mal, fünfzehn Mal hintereinander. Immer lieb gemeint, gut gelaunt und mit einem Lächeln im Gesicht.

Er möchte helfen, unterstützen.

Aber gut gemeint ist nunmal leider nicht immer gut gemacht.

F sagte an diesem Tag nichts zu ihrem Papa aber sie nahm sich vor, es selbst anders zu machen.

Was passiert, wenn wir das Spiel ständig unterbrechen?

Das Geheimnis, warum Kinder so schnell lernen, sind sogenannte Flow-Zustände, in die sie etwa 15 bis 20 Mal pro Tag geraten – wenn wir sie lassen! Der Flow bezeichnet „das als beglückend erlebte Gefühl eines mentalen Zustandes völliger Vertiefung und restlosen Aufgehens in einer Tätigkeit, die wie von selbst vor sich geht.“ Das „Urbild des Menschen im Flow ist das spielende Kind, das sich im glückseligen Zustand des Bei-sich-Seins befindet“ (nach dem Psychologen S. A. Warwitz). *

Silvia Streifel formuliert in ihrem Artikel „Liebe Mütter, bitte lasst eure Kinder in Ruhe!„:

Mit jeder ungefragten Hilfestellung, mit jeder Unterbrechung des Spieles, mit jeder Ermahnung zur Vorsicht, stören wir unsere Kinder in ihrem „Flow“. […] Nur weil sie sich so ganz und gar auf etwas einlassen können, sind sie in der Lage so rasend schnell zu lernen und zu wachsen. Mit jeder Unterbrechung vermitteln wir unseren Kindern außerdem, dass ihre Tätigkeit nicht wichtig genug ist, um sie nicht zu stören. […] Es ist also nicht einfach nur nervig, wenn Mama dauernd ihren Senf dazu gibt, sondern schädlich – für die kindliche Entwicklung und für unsere Beziehung zueinander.

Snowqueen vom „Gewünschtesten Wunschkind“ schreibt in ihrem Beitrag „Gesunde Kinder müssen nicht gefördert werden“ etwa:

Oft ist es auch Unwissenheit oder schlechtes Timing, die Erwachsene die Konzentration der Kinder unterbrechen lässt […] Das Unterbrechen des Flows bedeutet, das Kind aus einer wichtigen Konzentrationsphase herauszureißen und seine eigentlich gut fokussierte Aufmerksamkeit auf etwas anderes, für das Kind Belangloseres zu lenken. Langfristig wird so eben die Konzentrationsfähigkeit des Kindes klein gehalten. Wer immer dann unterbrochen wird, wenn er sich gerade auf etwas konzentriert, verlernt das Fokussieren auf einen Gegenstand bald. […] Ebenfalls ungünstig ist es, ein Kind immer darin zu unterbrechen, einen Gegenstand auf seine Weise zu untersuchen. Bekommt es stattdessen von den Erwachsenen erklärt, wie man „richtig“ mit diesem Gegenstand hantiert, vergeht dem Kind bald die Entdeckerfreude – auch dann gerät es nicht mehr in das Glücksgefühl des „Flows“ und echtes Lernen wird unterbunden.

Wie funktioniert Kinder „einfach mal machen lassen“?

Eben genau so: Einmal durchatmen und das Kind nur beobachten.

Leise.

Sich selbst zurücknehmen.

Eine ziemlich schwere Übung wäre es zum Beispiel, einen Tag lang wirklich nur dann einzugreifen, wenn das Kind offenbar Gefahr läuft, sich zu verletzen. Das heißt nicht, dass man das Kind an dem Tag ignoriert oder nicht mitmacht, wenn es zum Spielen auffordert.

Es geht um die Momente, in denen es uns nicht braucht. Die sind natürlich je nach Alter des Kindes unterschiedlich lang und häufig, aber es gibt sie, auch bei noch ganz kleinen Babys.

Das „Gewünschteste Wunschkind“ dazu:

Ganz besonders einfach fallen Kinder draußen in der Natur in den Zustand des Glücksgefühls. Deshalb dauert der eigentlich zehnminütige Weg vom Kindergarten nach Hause auch fast zwei Stunden, wenn man das Kind in seinem Tempo gehen lässt. Jeder Grashalm muss beguckt werden, Gänseblümchen gepflückt und aufgereiht, eine Bank muss zehn Mal bestiegen werden und die Blätter vom letzten Herbst gesammelt…. Lässt man sein Kind das alles tun, ohne zu drängeln, zu nörgeln oder es ununterbrochen anzusprechen, dann versinkt es auf diesem Spaziergang glücklich in einem Flow nach dem anderen. Es bilden sich in jenen Momenten unendlich viele neue neuronale Verbindungen – das Kind wird buchstäblich spielerisch schlauer und wir haben es „gefördert“, ohne groß etwas dafür tun zu müssen. […] Denkt daran, wenn ihr das nächste Mal genervt seid, weil euer Kind so „bummelt“. Es bummelt nicht, es lernt. Freiwillig und mit größter Leichtigkeit.

Versucht es also einmal mit „Slow Parenting“. Runter vom Gas.


Geben wir unseren Kindern Zeit, die Welt um sich herum auf eigene Faust und in ihrem eigenen Tempo zu erkunden. Sie können das!

Ums nach Maria Montessori zu formulieren: Helfen wir ihnen dabei, es selbst zu tun!

In diesem Sinne: Go with the Flow, liebe Eltern!

Quellen und weiterführende Links:

Bewusster leben per Mail

Gerne hier? Dann schließe dich rund 10.000 anderen AbonnentInnen an! Im kostenlosen Newsletter erhältst du Impulse zur bewussten Elternschaft und Lebensgestaltung, sowie diverse Empfehlungen und Infos zu Neuigkeiten direkt in deinen Posteingang. Ich freu mich auf dich!

Genauere Informationen entnimm bitte der Datenschutzerklärung.

Wir wertschätzen deine Privatsphäre. Du bekommst keinen Spam & kannst dich wieder abmelden. Powered by ConvertKit

6 Antworten

  1. Dieser Artikel hat mir sehr gut gefallen und ich ertappe mich selbst auch immer wieder dabei meinen Senf dazuzugeben. Meine Mutter hat mir schon immer gesagt „Unterbrich sie nicht“, „Stör ihr Spiel nicht“ und sie hat Recht damit. Also, lassen wir unseren Kindern Zeit und Ruhe – versuchen wir es zumindest :-).

  2. wow, danke, das ist ein wundervoller Artikel, und ein Blog so wie ich ihn mir vorgestellt habe;). gerade eben habe ich mein Kind einfach mal tun lassen, und er hat doch wirklich den Lichtschalter entdeckt, und mir damit bewiesen dass die danebenliegende Steckdose doch Nebensache ist. Liebe Mum, ich finde deinen Blog wirklich toll gestaltet, und gut durchdacht, mein Kompliment kommt aus tiefstem Herzen. Eigentlich wollt ich ja sowas schreiben, aber jetzt gibt’s es schon, und es ist perfekt ;).

    1. Vielen Dank, liebe Katharina! Ich freu mich sehr über dein Lob und noch mehr darüber, dass du’s gleich umgesetzt hast und ihr zwei Erfolge verzeichnen konntet. :) Danke nochmal!

  3. jaaa, schööön! :-)
    Ich besuche mit meiner fast 9 Monate alten Tochter eine „Lass mir Zeit“-Krabbelgrubbe (nach Emmi Pikler) . Das ist sehr nett und lustig zuzusehen. Ein bisschen wie einen Bildschirmschoner zu beobachten. :-) Die Kinder können über 1h spielen wie was und wo sie wollen. Ich habe den Eindruck, dass meine Tochter an den Tagen auch daheim noch voll herne „weiterentdeckt“.
    Ich überlege nur . . . soll ich das meiner Schwiegermutter sagen, wenn sie jeden kleinen Mucks, den die Kleine macht, ganz aufgeregt kommentiert?

  4. O,das ist so so so toll!Ich freue mich drauf,dass ich deine Blog aus Ungarn gefunden habe!Und,ja,eine Frage:Unsere 1,5Jahre Bub nach jedem trinken lasst dem übrigen Wasser(egal wieviel gibt es drinnen) auf dem Boden/ins Teller /auf dem Tisch von dem Glas fallen.Seit mehrere
    Monaten…Was empfehlst du,was probieren wir aus?

    Danke und alles alles Gute vom Herzen:Aniko

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert