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Mein gefühlsstarkes Kind verstehen und begleiten (und 8 typische Merkmale gefühlsstarker Kinder)

Gastartikel von Nora Imlau

Eins meiner drei Kinder war von klein auf anders als andere: feinfühliger, empfindlicher, sehr schnell überreizt. Aber auch wilder, energiegeladener, rebellischer. Von jedem Gefühl schien es nur in der Extremvariante zu kennen: größte Freude, tiefste Traurigkeit, wildeste Wut. Ein abenteuerlicher Mix, der uns im Familienalltag oft vor große Herausforderungen stellte!

Immer wieder fragte ich mich: Warum tickt dieses Kind nur so anders als die anderen? Warum macht es sich das Leben oft selbst so schwer? Und was kann ich tun, um ihm besser gerecht zu werden?

Heute weiß ich: Mein Kind ist ein gefühlsstarkes Kind. Es nimmt die Welt nicht nur anders wahr als andere Menschen, es hat auch besonders starke Emotionen und Bedürfnisse.

Kinder mit dieser besonderen Persönlichkeitsstruktur gab es schon immer. Sie galten als schwierig und bockig, aufmüpfig und schwer erziehbar, rebellisch und anstrengend. Sie wurden als Heulsusen bezeichnet und als kleine Tyrannen, als Mimosen und Terrorzwerge. Was mussten diese Kinder im Namen der Erziehung nicht alles erleiden! Mit aller Macht sollten sie zu Menschen geformt werden, die sich einfügen, statt aufzumucken. Ihr Wille sollte gebrochen werden, ihre Bedürfnisse unterdrückt.

Dass gefühlsstarke Kinder so sind, wie sie sind, ist keine Frage der Erziehung. Sondern ihrer Hirnchemie.

Dabei wissen wir heute: Dass gefühlsstarke Kinder so sind, wie sie sind, ist keine Frage der Erziehung. Sondern ihrer Hirnchemie. Der Grund: Die Amygdala, also der „Gefahrendetektor im Gehirn“, ist bei diesen Kindern besonders aktiv, was zu ihren heftigen emotionalen Reaktionen führt. Ihr Vagusnerv, der für die Selbstberuhigungsfähigkeit zuständig ist, ist hingegen nur relativ schwach ausgeprägt. Das heißt: Sie nehmen alle Eindrücke besonders intensiv wahr und sind deshalb schnell überreizt. Gleichzeitig brauchen sie viel Begleitung, um in emotional schwierigen Situationen wieder in die Ruhe finden zu können.

Das stellt sie und ihre Eltern im Alltag oft vor große Herausforderungen: Die Zahnpasta ist für sie eben nicht nur ein bisschen scharf – sie brennt in ihrem Mund wie Feuer. Der Pulli kratzt nicht nur ein bisschen– er fühlt sich auf der Haut geradezu unerträglich an. Das Haarekämmen ziept nicht nur, es schmerzt. Die Kartoffeln sind nicht nur ein bisschen mehlig, sondern ungenießbar. Das Kinderkonzert ist nicht nur ein bisschen laut, sondern lässt gefühlt den Kopf explodieren.

Kurz: Der ganz normale Alltag hat mit einem gefühlsstarken Kind jede Menge Drama-Potential. Trotzdem jede Krise liebevoll und zugewandt zu begleiten, ist manchmal echt Schwerstarbeit!

Gefühlsstarke Kinder können sich wie kleine Energievampire anfühlen, weil ihre starken Bedürfnisse scheinbar niemals weniger werden. „Egal, was ich meinem Kind gebe, es will immer noch mehr!“ – diesen Stoßseufzer kennen fast alle betroffenen Familien. Für Eltern gefühlsstarker Kinder ist es deshalb unglaublich wichtig zu lernen, ihrem Kind gegenüber die eigenen Grenzen klar zu vertreten, ohne es dabei zu verletzen. Das fällt vielen von uns unglaublich schwer, weil wir das selbst nicht gelernt haben.

Wir denken ja immer, ein Ja sei die nette, zugewandte Antwort, und ein Nein bedeute Schmerz und Zurückweisung. Dabei brauchen es gefühlsstarke Kinder unbedingt, von ihren Eltern auch mal ein liebevolles, klares Nein zu hören. Liebevolle Selbstfürsorge ist da das Stichwort: Um nicht irgendwann auszurasten, muss ich mich um mich selbst als Mutter genauso gut kümmern wie um mein Kind. Das war auch für mich persönlich ein echter Lernprozess.

So viel Freude so viel Wut von Nora Imlau

In einem zweiten Schritt musste ich dann lernen, meinem gefühlsstarken Kind einen gesunden Umgang mit seinen eigenen Emotionen zu vermitteln. Gerade als bindungsorientiert denkende Mutter, die ihr Kind auf keinen Fall verbiegen will, war das für mich wirklich knifflig: Wie kann ich mein Kind bedingungslos annehmen, wie es ist – und ihm gleichzeitig vermitteln, dass es sich nicht wie die sprichwörtliche Axt im Walde benehmen kann? Dafür musste ich erst einmal verstehen, wie Kinder Selbstregulationsfähigkeit entwickeln. Und wie Eltern sie dabei auf achtsame, wertschätzende Weise unterstützen können.

Heute sind mein gefühlsstarkes Kind und ich gemeinsam auf einem guten Weg. Und ich habe mittlerweile so ein Faible für genau diese Kinder entwickelt, dass ich jetzt sogar ein ganzes Buch über sie geschrieben habe, voller Bewunderung und Wertschätzung für diese so willensstarken und gleichzeitig so verletzlichen Jungen und Mädchen, von denen wir alle so viel lernen können. Denn gefühlsstarke Kinder können nicht nur weinen und wüten. Sie sind auch unglaublich ausdauernd und aktiv, und bewundernswert hartnäckig: Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt haben, lassen sie davon so schnell nicht wieder ab.

Als Babys fangen oft schon mit drei, vier Monaten an, sich zu drehen, um vorwärts zu kommen, und machen bereits vor dem ersten Geburtstag die ersten freien Schritte, weil sie sich einfach nie entmutigen lassen. Diese Zielstrebigkeit bleibt ihnen auch wenn sie älter werden erhalten: Mit Zwang geht bei ihnen nichts, aber wenn sie sich vornehmen, Schach spielen zu lernen oder eine Band zu gründen, lassen sie sich durch nichts und niemanden davon abhalten. Diese Dickköpfigkeit treibt ihr Umfeld manchmal in den Wahnsinn, ist aber im Grunde genommen eine großartige Gabe: Die Primatenforscherin Jane Goodall hätte es sonst wohl nie in den Dschungel geschafft, Steve Jobs hätte seine kleine Computerwerkstatt nicht zum Weltkonzern aufgebaut, Albert Schweizer hätte kein Urwaldkrankenhaus aufgebaut, und die Sängerin P!NK würde heute keine Stadien füllen. Sie alle waren nämlich einmal gefühlsstarke Kinder.

Was mein eigenes gefühlsstarkes Kind wohl einmal aus seiner besonderen Veranlagung machen wird? Das weiß ich nicht. Aber ich bin überzeugt: Es wird etwas Wunderbares sein.


8 typische Merkmale gefühlsstarker Kinder:
  1. Sie erleben und äußern Gefühle besonders intensiv und springen dabei häufig von einem Extrem ins nächste.
  2. Sie sind sehr ausdauernd und hartnäckig und lassen so leicht nicht locker, wenn sie sich mal etwas in den Kopf gesetzt haben.
  3. Sie sind überdurchschnittlich sensibel, dadurch auch leicht reizüberflutet und sehr verletzlich.
  4. Sie sind außergewöhnlich offen für alle Eindrücke und nehmen ihre Umwelt ganz genau wahr.
  5. Sie haben ein Thema mit Routinen: Entweder beharren sie stark auf immergleichen Abläufen, von denen um keinen Preis abgewichen werden darf. Oder sie empfinden jede Form von Rahmen als Freiheitsbeschränkung und wehren sich mit aller Macht gegen immergleiche Abläufe im Alltag.
  6. Sie verfügen über eine scheinbar niemals endende Energie, haben einen großen Bewegungsdrang, und brauchen im Vergleich zu anderen Kindern ihres Alters viel weniger Schlaf.
  7. Sie tun sich sehr schwer mit Veränderungen und Übergängen. Jede neue Umgebung bedeutet erstmal Stress, jeder Wechsel zwischen Bezugspersonen fällt schwer.
  8. Sie sind oft sehr nachdenklich, philosophisch und grüblerisch und machen sich auch über traurige und schwierige Themen viele Gedanken. Deshalb wirken sie oft ernster als andere Kinder.

Mehr Informationen zum Thema gibt’s unter www.gefuehlsstarkekinder.de


Nora Imlau

Autorin, Journalistin, Speakerin

Als Mutter dreier Kinder und Expertin für bindungsorientierte Elternschaft macht sich Nora Imlau stark für das Kinder- und Elternrecht auf ein gewaltfreies, liebevolles Familienleben.

Ihr neues Buch „So viel Freude, so viel Wut“ ist beim Kösel Verlag erschienen und jetzt erhältlich.

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7 Antworten

  1. Wow, da war ich beim Psychologen, mehrfach beim Kinderarzt und bei einer weiteren Beratungsstelle und auf Deinem Blog finde ich die Lösung. Aus tiefstem Herzen: Dankeschön. Ich dachte, unsere Tochter wäre aufgrund des Krankenhausaufenthaltes nach der Geburt so sensibel und würde deswegen schlecht schlafen. Aber endlich passen mal die Beschreibungen. Dein Buch werd ich mir gleich zulegen.
    Ganz liebe Grüße aus Bayern,
    Mirjam

  2. Danke für deinen wundervollen Blog. Meinem Sohn (4) wurde schon einiges angedichtet. Und wir wurden schon zu einigen Stellen geschickt. Und alle waren überfordert damit. Dann bin ich auf deinen Blog gestoßen und es trifft komplett auf meinen Sohn zu. Das Buch werde ich mir auch noch holen. Liebe Grüße Sandra

  3. Mein Sohn ist genauso wie du beschrieben hast, dein Buch habe ich auch gelesen. Nun leider finde ich kaum Zugang zu ihm, er ist erst fast 6 und wird frecher, stärker und schlägt noch mehr zu. Wir waren auch schon bei verschiedenen Spezialisten und dazu kommt bei ihm noch eine IS Störung. Er macht mich wahnsinnig, seine starken Wutanfälle nehmen mich mit denn er jedes mal auch mir schmelzen zufügt, ich bin nur am schreien , habe keine Kraft mehr, fällt mir sehr schwer ihn so wie er ist anzunehmen.:(

    1. Ja, dieses Gefühl kenne ich nur zu gut! Ich versuche so viel, um meinen Sohn zu begleiten, für uns alle einen erträglichen Alltag zu schaffen, und doch stoße ich so oft an meine Grenzen. Mein Akku ist leer, aber ich habe zumindest das Gefühl, dass wir uns mit ganz kleinen Schritten einem guten Miteinander nähern. Ich wünsche allen Eltern mit gefühlsstarken Kindern viel Kraft, viel Ausdauer und gute Begleiter auf diesem Weg!

  4. Unsere Tochter finde ich auch in diesem Artikel voll und ganz wieder.

    * wenn Sie mal wieder einen Ihrer großen Wut- Trotzanfall hat lasse ich Sie einfach und versuche möglichst wenig, bis gar nicht verbal zu reagieren, sondern warte ab… ( wir Mama‘s überfordern unseren Nachwuchs auch des öfteren „nur“ durch viel zu viele Worte) ich nehme Sie einfach in die Arme …. oder biete es Ihr an, indem ich die Arme öffne und manchmal Kniee ich mich auch dazu hin um auf Ihrer Höhe zu sein…

    Herzzerreißendes weinen und entschuldigen folgt…. ich beruhige Sie und versichere, dass ich Sie Liebe genau so wie Sie ist( auch wenn es manchmal nicht einfach ist ;).

    Sie ist ein wirklich wundervoller Mensch!!!

  5. Wahnsinn!! Ich habe gerade in jedem Wort unsere Miriam wieder erkannt. Wie eine Offenbarung. Muss mir jetzt sofort dein Buch bestellen und hoffe dadurch besser mit allem zurecht zukommen. Hab mich schon so oft gefragt was ich bei Miriam anders gemacht habe weil ihre Brüder, trotz der gleichen Mama gleichem Papa und gleicher Erziehung , so ganz anders sind. Aber scheinbar gibt es für jedes Rätsel eine Lösung! Danke, Nicole

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