Vor fast zehn Jahren ließen Josi Bernstein und ihr Mann ihr Hab und Gut zurück und stiegen in den Flieger nach Asien: Sie fanden ein Leben voller Freiheit, Zeit und Nähe. Heute leben sie im Norden Thailands, zwischen Reisfeldern, Tempeln und Straßenhunden, arbeiten online und begleiten ihre Tochter auf Augenhöhe. In diesem Gastartikel erzählt Jost von „Backpack Baby“, wie dieses Abenteuer ihre Familie verändert hat – und warum ein Leben ohne starren Plan so viel reicher sein kann.
Ein Leben, alles andere als gewöhnlich
Ein ganz gewöhnlicher Dienstag, 15:50 Uhr: Der Roller brummt unter mir, während ich über die regennassen Straßen düse. Noch zehn Minuten, bis die Schule schließt. Ich brause durch die thailändische Regenzeit, vorbei an Reisfeldern und kleinen Cafés. Wie jeden Tag hole ich meine Tochter von der Schule ab.
Und all das, weil ich vor bald 10 Jahren eine große Entscheidung getroffen habe.
Warme Suppe und Fledermaus-Saltos
Wie meistens steht meine Tochter Lola barfuß mit ihren Freundinnen auf dem Schulhof der kleinen internationalen Elterninitiative. Es riecht nach Reissuppe. Auf der Straße schlafen zwei Straßenhunde und ein paar Hühner laufen gackernd am Schultor vorbei.
Zwei Drittel der Schüler*innen und Lehrer*innen sind Thai. Alle anderen kommen von überall her: aus Australien, den USA, den Niederlanden, Frankreich und Japan.
Wie so oft sind längst Pläne für den Nachmittag gemacht worden – und plötzlich sitzen zusätzlich drei aufgeregte Gastkinder auf meinem kleinen Roller. Zum Glück kommt eine Freundin und fährt die Kinder für mich nach Hause.
Am Ende des Tages schnippeln die Kinder Gemüse in meiner offenen Küche – in einem Haus, das größtenteils ohne Wände auskommt. Die Kinder kochen Suppe und wechseln dabei fließend zwischen drei Sprachen. Meine Freundin bleibt spontan, wir sitzen alle im Kreis auf Sitzkissen und genießen die warme Suppe an diesem verhältnismäßig kühlen Regentag, während uns unsere Katzen um die Beine streichen.
In der Ferne hören wir die Mönche singen und ein paar Fledermäuse schlagen wie fast jeden Tag Saltos in der Dämmerung über unserem Sofa.
„Es ist schon ein verrücktes Leben“, denke ich manchmal.
Ein Alltag mit mehr Zeit
Ich merke immer wieder, wie viel es verändert, dass die Menschen hier in Thailand mehr Zeit haben. Nicht ständig mehr verdienen müssen, nicht dauernd optimieren. Zeit, um zuzuhören. Um einfach mal zu bleiben. Es entstehen andere Gespräche, andere Beziehungen.
Mehr Nähe, weniger Eile. Und die Kinder spüren das.
Vor zehn Jahren hätte ich über diese Szene ungläubig den Kopf geschüttelt. Mein Lebensplan sah ursprünglich ganz anders aus. Eigentlich wollte ich promovieren und an der Uni bleiben, oder um die Welt reisen und Vorträge über interkulturelle Kommunikation halten.
Und dann kam Lola
Aber dann kam Lola. Und alles war anders.
Man könnte sagen, dass ich etwas naiv in meine Mutterschaft geschlittert bin.
Ich war GFK-Trainerin für Kinder, kannte unzählige Familien – und dachte, das Kind läuft dann schon irgendwie mit. Meine Tochter hat mich ohne mit der Wimper zu zucken eines Besseren belehrt. Schnell lernten wir die Begriffe „Steinzeitbaby“, „bedürfnisorientiert“ und „High Need“ kennen.
Ich werde die Nacht nie vergessen, als ich bei Berliner Nieselregen um 3 Uhr morgens vor einer grünen Ampel auf und ab wippte. Mein Baby war immerwach, und ich zu müde, um die Grünphase zu bemerken. Das war der Moment, an dem ich spürte: „Das kann doch nicht alles sein!“ Wir waren müde, ziemlich alleingelassen und zukunftsängstlich. Es war klar, dass unser Kind „mehr“ braucht – und dass dieses „mehr“ im Berliner Stadtalltag mit Vollzeitstelle im Büro nicht zu leisten ist.
Alles aufgeben für ein neues Leben
Ich weiß gar nicht, wo genau die Idee herkam.
Ich weiß nur, dass kurz nach der Nacht an der Ampel eines Morgens um fünf meinen Mann aufweckte und sagte: „Ich hatte einen Traum. Wir müssen nach Bali.“ Ich hatte von Freiheit und Reisfeldern geträumt. Vom Wind im Haar und Tempeln voller Räucherstäbchenduft.
Nach diesem Traum war ich wie ausgewechselt. Plötzlich hatte ich ein Ziel und wusste, dass ich es nicht mehr aus den Augen verlieren würde.
Vielleicht war es die Müdigkeit. Vielleicht der Wunsch nach neuen Impulsen. Oder einfach die Angst vor dem täglichen Sockenkrieg im Berliner Winter.
Vier Wochen später hatten wir unser Hab und Gut verkauft, die Wohnung untervermietet und saßen im Flieger nach Asien.
Unsere Tochter Lola war gerade ein Jahr alt und sollte auf unserer Reise erstaunliche Entwicklungen durchmachen.
Aus unserem nimmermüden Baby wurde ein aufgewecktes, neugieriges Kleinkind, das fremde Kulturen und Sprachen nur so aufsaugte.
Müde waren wir noch immer. Aber das Leben wurde leichter. Keine Bewertungen mehr von außen. Mit der Babytrage durch Museen und exotische Städte. Gespräche mit Reisenden, die eine ähnliche Sicht auf die Welt hatten. Nach neun Monaten Reise waren zwei Dinge klar: Wir leben ohne Erziehung – und wir werden nicht mehr nach Deutschland zurückkehren.
Nach neun Monaten Reise waren zwei Dinge klar: Wir leben ohne Erziehung – und wir werden nicht mehr nach Deutschland zurückkehren.
Ein Leben ohne Erziehung
Leben ohne Erziehung bedeutet für uns, dass wir unserem Kind auf Augenhöhe begegnen.
Keine Machtspielchen, keine „Wenn-Dann“-Drohungen, kein Gehorsamstraining. Stattdessen Beziehung, Vertrauen und echte Autonomie.
Statt starrer Regeln gibt es bei uns Familienkonferenzen, bei denen jedes Familienmitglied Gehör findet. Statt Strafen fragen wir: „Warum?“
An unseren Entscheidertagen darf jeweils ein Familienmitglied den Tag bestimmen. Statt großer Forderungen sind diese Tage inzwischen ein Übungsfeld fürs ‚aufeinander achten‘. So schaut Lola zum Beispiel, dass sie Aktivitäten findet, die auch uns Eltern Freude machen und dass die Energie aller für den geplanten Tag reicht. Durch die Art wie wir leben, fühlt sich Entscheiden eher wie Verantwortung an – obwohl, oder gerade weil es eigentlich alle Freiheiten gibt. Der Satz: „Mama, wollen wir einmal durchatmen und dann reden wir drüber?“, begegnet mir im Alltag inzwischen regelmäßig. Nicht, weil wir es erzwingen, sondern weil wir es vorleben.
Für uns ist das Leben ohne Erziehung viel besser als das, was vorher war. Gerade bei Lola. Sie ist ein intensives Kind. War sie schon immer. Neugierig, willensstark, sensibel bis ins Mark. Bei ihr funktionieren willkürliche Regeln nicht – sie braucht Klarheit, aber keinen Zwang. Beziehung statt Kontrolle. Kommunikation statt Ansagen. Wir haben ziemlich schnell gemerkt: Wenn wir mit Druck arbeiten, verlieren wir sie. Wenn wir auf Verbindung setzen, blüht sie auf. Und wir mit.
Wir haben ziemlich schnell gemerkt: Wenn wir mit Druck arbeiten, verlieren wir sie. Wenn wir auf Verbindung setzen, blüht sie auf. Und wir mit.
Weniger Druck, mehr Zeit und Vertrauen
Heute leben wir im Norden Thailands, arbeiten online als Journalisten und Social Media Marketer – und erziehen immer noch nicht. Unsere kleine Community ist ein Sammelsurium aus Menschen aller Länder – die meisten leben ganz ähnlich wie wir.
Vielleicht ist es genau das, was uns hier so guttut: weniger Druck, mehr Zeit – und das Vertrauen, dass alles seinen Weg findet, wenn man es lässt und dem eigenen Bauchgefühl vertraut.
Über Josi Bernstein
Josi Bernstein ist studierte Philosophin, Mutter und Autorin und lebt seit zehn Jahren mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf im Norden Thailands. Sie schreibt über radikale Lässigkeit im Alltag, Leben ohne Erziehung und darüber, was passiert, wenn man kompromisslos seinen eigenen Weg geht – mit all seinen Ecken und Kanten.
Auf Steady veröffentlicht sie regelmäßig Texte, die Alltagsthemen tief philosophisch beleuchten – von toxischen Freundschaften über Cycle Breaking bis zur Kraft von Muay Thai. Ihre Frage lautet: Was bedeutet Freiheit wirklich – jenseits von Idealen und Leistungsdruck? Auf Instagram @backpack_baby gibt sie Einblicke in ein Leben jenseits von To-do-Listen, Leistungsdruck und Erziehungsmythen: Ehrlich und mit einem offenen Blick für das Schöne im Ungeplanten.
Hattest du schon einmal den Wunsch, alles hinter dir zu lassen und auszuwandern? Sehnst du dich danach, dem hektischen Alltag zu entfliehen? Was würdest du ändern, wenn du deinem Bauchgefühl und deinem Kind folgen könntest?
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